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BeitragInterviewJournal 2/23

Das Auto als Gast auf unseren Straßen – Ein Gespräch im niederländischen Venlo

By 2. Oktober 2023Keine Kommentare
Robin Denstorff, Frauke Burgdorff und Ludger Kloidt (v.l.n.r.) trafen sich im niederländischen Venlo zum Fachaustausch. Foto: Franklin Berger
Robin Denstorff, Frauke Burgdorff und Ludger Kloidt (v.l.n.r.) trafen sich im niederländischen Venlo zum Fachaustausch.

Die Themenfelder Mobilitätsmanagement und Quartiersentwicklung gehen Hand in Hand und sind für die Zukunft der Stadtplanung in Nordrhein-Westfalen von großer Bedeutung. Ludger Kloidt, Geschäftsführer von NRW.URBAN, lud Frauke Burgdorff, Beigeordnete für Stadtentwicklung, Bau und Mobilität der Stadt Aachen, und Robin Denstorff, Stadtbaurat in Münster, zu einem Erfahrungsaustausch ein. Um zukunftsweisende Konzepte zu diskutieren, trafen sie sich im niederländischen Venlo. Dort wurden sie von Nina Krockow, Leiterin des Duitsland-Niederlande Huis, begrüßt. Marij Pollux-Linssen, Beigeordnete für Verkehr, Kreislaufwirtschaft, Nachhaltigkeit, Umwelt und Natur der Stadt Venlo, bereicherte die Runde.

Liebe Frau Krockow, vielen Dank, dass wir heute bei Ihnen zu Gast sein dürfen. Wir sitzen hier im Haus der Bibliothek, die gleichzeitig auch zentrales Begegnungszentrum in Venlo ist und das Duitsland-Niederlande Huis beheimatet …

Nina Krockow: Herzlich willkommen! Das Duitsland-Niederlande Huis wurde 2020 ins Leben gerufen und soll auf niederschwellige Weise dafür sorgen, dass Menschen aus den Niederlanden und aus Deutschland im Grenzgebiet mehr voneinander erfahren und voneinander lernen. Wir bauen kontinuierlich unsere Netzwerke aus, deshalb habe ich mich sehr über Ihre Anfrage gefreut und sofort Marij Pollux-Linssen, die in Venlo unter anderem für die Verkehrsplanung zuständig ist, hinzugezogen.

Eine Fietsstraat (Fahrradstraße) in Venlo. Hier gelten Fahrräder als primäre Verkehrsmittel und Autos und andere motorisierte Fahrzeuge sind nur „zu Gast“. Fahrradstraßen sind in der Regel rot gepflastert oder mit rotem Asphalt eingefärbt.
Eine Fietsstraat (Fahrradstraße) in Venlo. Hier gelten Fahrräder als primäre Verkehrsmittel und Autos und andere motorisierte Fahrzeuge sind nur „zu Gast“. Fahrradstraßen sind in der Regel rot gepflastert oder mit rotem Asphalt eingefärbt.
Fotos: Franklin Berger

Wir wollen heute über gute Lösungen für die Nahmobilität sprechen, über die Aufteilung von Verkehrsräumen und die Akzeptanz unkonventioneller Lösungen. In den Niederlanden haben Sie eine viel größere Tradition, wenn es um das Zusammenspiel von Fuß-, Rad- und Autoverkehr geht, was können wir uns bei Ihnen abschauen, Frau Pollux-Linssen?

Marij Pollux-Linssen: Sicherlich sind wir in den Niederlanden dem Fahrradverkehr ganz anders verbunden als die Deutschen. Aber auch wir müssen unsere Bürgerinnen und Bürger immer wieder mit Mühe davon überzeugen, das Auto stehen zu lassen. Wir verfolgen seit geraumer Zeit in der Verkehrsplanung das STOP-Prinzip. Das S steht für „stappen“ also gehen, das T für „trappen“, in die Pedale treten, das O für „openbaar vervoer“, den öffentlichen Nahverkehr, und das P für das private Auto. Wir wollen den öffentlichen Raum in Venlo konsequent auf dieses Prinzip ausrichten, auch wenn die meisten Venloer ihr Auto am liebsten direkt vor der Tür stehen haben …

Das ist also gar nicht so typisch deutsch?

Marij Pollux-Linssen: Nein, das ist wahrscheinlich ein weltweites Phänomen. Wir weisen immer mehr Straßen als Fahrradstraßen aus, denn mit Zunahme der E-Bikes reichen „einfache“ autostraßenbegleitende Radwege nicht mehr aus. Auf diesen Fahrradstraßen hat das Fahrrad immer Vorfahrt, das Auto ist dort lediglich zu Gast. Bei neuen Entwicklungen – zum Beispiel bei der Planung des neuen Wohngebiets „Kazerne Kwartier“ auf einer ehemaligen Militärfläche jenseits der Maas – bestimmt das STOP Prinzip die Wegeführungen. Im inneren Bereich gibt es nur Fuß- und Radverkehr, die Autos werden am Rand in Quartiersgaragen untergebracht. Da der Platz oft einfach nicht ausreicht, ist es im Bestand schwieriger, das Prinzip konsequent zu verfolgen.

Sehr geehrte Frau Burgdorff, Sie haben im Sommer 2021 gemeinsam mit Thomas Dienberg, Bürgermeister und Beigeordneter für Stadtentwicklung und Bau in Leipzig, die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“ angestoßen, der inzwischen 900 Kommunen beigetreten sind. Die Bundesregierung hat Ende Juni 2023 nun eine Reform des Straßenverkehrsgesetzes, die auch das Einführen von Tempo-30-Zonen bundesweit erleichtern soll, beschlossen. Was bringt das?

Frauke Burgdorff: Ich setze in der Verkehrsplanung auf harmonisierte Geschwindigkeiten. Deshalb finde ich das, was Marij Pollux-Linssen über das STOP-Prinzip berichtet hat, sehr spannend. Die Differenz der Geschwindigkeiten von Fußverkehr, Radfahrenden und Autos birgt unnötiges Konfliktpotenzial. Wenn wir den motorisierten Verkehr auf Tempo 30 reduzieren, verringert sich die Geschwindigkeitsdifferenz. Die Mobilität wird sicherer. Wichtig auch: Bei Autos, die schneller als 30 km/h fahren, sind die Rollgeräusche in der Regel lauter als die Motoren – das gilt also auch für E-Fahrzeuge. Und wir wollen ja alle eine leise, gut bewohnbare, freundliche Stadt – auch an Einfallstraßen.

Aber ähnlich wie hier in Venlo ist es sicher schwierig, das im Bestand konsequent umzusetzen. Es ist doch schlichtweg nicht genug Platz für alle, oder?

Frauke Burgdorff: Deshalb haben wir uns entschieden, die Netze in unterschiedlichen Straßenräumen zu priorisieren. Ein Premium-Netz für Fußverkehr, ein Premium-Netz für Fahrräder – das auch regional ausgebaut wird – und ein Premium-Netz für den ÖPNV. Der motorisierte Verkehr kommt auf den Hauptverkehrsstraßen durch die Stadt in den Nebennetzen nur noch gezielt von A nach B.

Gesprächsrunde im Duitsland-Niederlande Huis in der Bibliotheek Venlo: Der Leitgedanke „voneinander Lernen“ wurde in die Praxis umgesetzt.
Gesprächsrunde im Duitsland-Niederlande Huis in der Bibliotheek Venlo: Der Leitgedanke „voneinander Lernen“ wurde in die Praxis umgesetzt.

Wir haben gelernt, dass Aachen eine Fußgängerstadt ist. Münster hingegen ist die Fahrradstadt in Deutschland. Herr Denstorff, haben Sie auch eine so klare Hierarchie bei der Aufteilung des Stadt- und Verkehrsraums?

Robin Denstorff: Die Mobilität steht immer im Zusammenhang mit den spezifischen Räumen. Münster hat ganz andere Spezifika als Aachen. In Münster erschließen sich die meisten Menschen ihre Stadt mit dem Fahrrad. Fast die Hälfte der Wege wird mit dem Fahrrad zurückgelegt – und das glücklicherweise mit steigender Tendenz. Damit verbunden ist aber auch, dass sich die Radverkehrsinfrastruktur bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung ganz neuen Herausforderungen stellen muss. Zunehmender Radverkehr, mehr Lastenfahrräder und höhere Geschwindigkeiten der E-Bikes – leider auch mit einem erhöhten Unfallrisiko – erfordern eine veränderte Infrastruktur. Deshalb haben wir 2019 entschieden, das seit 1990 schon umgesetzte Fahrradstraßenkonzept auf ein neues Qualitätsniveau zu heben. Innerhalb eines Sommers haben wir neun Kilometer Straßen zu Fahrradstraßen nach niederländischem Vorbild umgebaut. Auf immer mehr rot eingefärbten Straßen in Münster heißt es „Autos zu Gast“ und Vorfahrt für den Radverkehr. Aber auch attraktive Räume und Verbindungen für Zufußgehende, attraktive und schnelle ÖPNV-Achsen sowie ein stadtverträglicher motorisierter Individualverkehr stehen in unserem Arbeitsprogramm.

Hat die Bevölkerung diese Fahrradstraßen gut angenommen?

Robin Denstorff: Mit dem Bau der Fahrradstraßen verbunden war es, die Straßenräume neu aufzuteilen. Um die notwendigen Breiten sicherzustellen und die Gefahr von Dooring-Unfällen zu reduzieren, sind einige Stellplätze weggefallen. Das hat auch zu Protest geführt – auch weil vielen noch nicht klar war, welche Qualitäten die „neuen“ Fahrradstraßen haben. Bei Umfragen einer Lokalzeitung wurde aber schnell klar, dass der Zuspruch steigt und ein Jahr später gut drei Viertel der befragten Menschen in Münster antworteten, dass sie die neuen Fahrradstraßen gut finden.

Frauke Burgdorff
Frauke Burgdorff, Stadt Aachen
Ludger Kloidt
Ludger Kloidt, NRW.URBAN
Robin Denstorff,
Robin Denstorff, Stadt Münster

Dann gibt es also inzwischen in Münster unterschiedliche Qualitäten von Radverkehrswegen?

Robin Denstorff: Bis vor wenigen Jahren gab es keine Hierarchie im Netz. Aktuell planen wir mit einem dänischen Planungsbüro das Radwegenetz 2.0. Es weist entsprechend der jeweiligen Bedeutung für den Radverkehr drei unterschiedliche Hierarchien aus: Basis- und Hauptrouten sowie Velorouten. Daraus ergeben sich auch Prioritäten für die Qualifizierung dieser Routen und ihrer Instandhaltung. Die Velorouten haben wir gemeinsam mit den Nachbargemeinden als ein regionales Radwegenetz entwickelt. Ziel ist hier ein 180 Kilometer umfassendes Velorouten-Netz. Das Gute ist, dass es dieses Netz heute schon gibt und wir nach und nach neue Qualitätsstandards umsetzen.

Es geht bei allen Konzepten darum, Räume neu aufzuteilen, weil man ja an den vorhandenen Verkehrsraum nichts „dranstricken“ kann … Herr Kloidt, was sind denn Trends oder Gemeinsamkeiten, die sie in den diversen Kommunen bemerken?

Ludger Kloidt: Gesamtgesellschaftlich stehen wir vor der Herausforderung, gewachsene Strukturen neu zu ordnen und aus einer Konkurrenz verschiedener Nutzungen ein Nebeneinander oder noch besser ein sicheres Miteinander im Verkehr zu erreichen. Darüber hinaus kommen noch weitere Aufgaben hinzu – zum Beispiel die Anbindung an das ÖPNV-Netz oder die Sicherheit der Arbeits- und Schulwege. Dort fehlen den Kommunen häufig personelle Ressourcen. Wir sind in ungefähr der Hälfte der Städte und Gemeinden Nordrhein-Westfalens aktiv, beratend und unterstützend. Gleichzeitig stehen wir im engen Kontakt mit den Ministerien und kommunizieren gezielt Förderrichtlinien in den Kommunen. Der Unterschied zwischen den Teilnehmenden an dieser Runde ist, dass Frau Pollux-Linssen, Frau Burgdorff und Herr Denstorff steuern, planen und umsetzen und wir als Landesgesellschaft als Beraterin hinzugezogen werden, wenn Planungsprozesse bereits laufen und Entscheidungen gefallen sind. Wir würden einer Kommune nie vorschreiben, was sie zu machen hat.

Wie sehen Sie Münster in den kommenden Jahren, Herr Denstorff?

Vielen Dank für das spannende Gespräch!

Robin Denstorff: Ich wünsche mir, dass die Zeit, die Münsteranerinnen und Münsteraner mit Mobilität verbringen, keine lästige Zeit ist, sondern eine richtig gute Zeit: Zeit, in der sie sich an der frischen Luft durch eine schöne Stadt bewegen, rechts und links Dinge sehen, die ihr Leben bereichern, Menschen treffen, sich austauschen. Ein Projekt, das dieses Lebensgefühl bereits vermittelt, ist die vor Kurzem fertiggestellte Kanalpromenade.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Heimatstadt Aachen, Frau Burgdorff?

Frauke Burgdorff: Mein Zielbild ist eine entspannte Urbanität. Schlendern, sich treffen, verweilen … Schlüsselprojekte, die bereits darauf einzahlen, sind unser Theaterplatz und ein ehemaliges Parkhaus, das zu einer Wiese wurde. Der Theaterplatz wird jetzt ein autofreier, eleganter Platz, das einstige Parkhaus Büchel ein sehr charmanter Ort, wo man sich trifft und in Zukunft auch gewohnt wird. Wir müssen aber noch viele strukturelle Probleme bewältigen, die vor allem leer stehende Handelsimmobilien betreffen. Das Wohnen in der innersten Stadt soll wieder mehr Raum gewinnen und der vermeintliche Attraktor Handel könnte durch einen Attraktor Bildung kompensiert werden. Vielleicht schaffen wir es sogar ein „Haus der Neugier“ – hier sind Städte wie Helsinki Vorbild – in einem der leer stehenden Kaufhäuser zu entwickeln.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Heimatstadt Aachen, Frau Burgdorff?

Frauke Burgdorff: Mein Zielbild ist eine entspannte Urbanität. Schlendern, sich treffen, verweilen … Schlüsselprojekte, die bereits darauf einzahlen, sind unser Theaterplatz und ein ehemaliges Parkhaus, das zu einer Wiese wurde. Der Theaterplatz wird jetzt ein autofreier, eleganter Platz, das einstige Parkhaus Büchel ein sehr charmanter Ort, wo man sich trifft und in Zukunft auch gewohnt wird. Wir müssen aber noch viele strukturelle Probleme bewältigen, die vor allem leer stehende Handelsimmobilien betreffen. Das Wohnen in der innersten Stadt soll wieder mehr Raum gewinnen und der vermeintliche Attraktor Handel könnte durch einen Attraktor Bildung kompensiert werden. Vielleicht schaffen wir es sogar ein „Haus der Neugier“ – hier sind Städte wie Helsinki Vorbild – in einem der leer stehenden Kaufhäuser zu entwickeln.

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