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BeitragJournal 2/22

Möglichkeiten und Grenzen – Eine Einschätzung zum besonderen Städtebaurecht

By 6. Oktober 2022Januar 3rd, 2023Keine Kommentare
Besonderes Städtebaurecht, Interview mit Dr. Franz-Josef Lemmen und Ole Malik
Dr. Franz-Josef Lemmen (l.) und Ole Malik auf einer Brücke über den Dortmund-Ems-Kanal mit Blick auf das Gebiet der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme in Münster.

Sind Städte oder Gemeinden in einem Quartier mit besonderen Missständen konfrontiert, können sie das besondere Städtebaurecht des Baugesetzbuchs (BauGB) anwenden. Dazu zählen insbesondere Defizite im städtebaulichen Bestand, die häufig ganze Quartiere betreffen. Das Besondere Städtebaurecht erweitert Handlungsspielräume und gewährt der öffentlichen Hand besondere Eingriffsmöglichkeiten. Es beinhaltet einerseits eigene Instrumente und Verfahren und kann sich andererseits auch auf Instrumente der Bauleitplanung sowie informelle Instrumente wie zum Beispiel städtebauliche Rahmenplanungen stützen. Das NRW.URBAN-Journal sprach mit Dr. Franz-Josef, Spezialist für besonderes Städtebaurecht bei NRW.URBAN, und Ole Malik, der aktuell Projekte in Münster und Dortmund betreut, über Möglichkeiten, Grenzen und Anwendungspraxis.

Das besondere Städtebaurecht kann unter anderem Grundstücksverkäufe oder bauliche Veränderungen genehmigungspflichtig machen und Kommunen ein Vorkaufsrecht bei Grundstücksverkäufen einräumen. Warum kommt es nicht häufiger zum Einsatz?

Franz-Josef Lemmen: Ohne Zweifel gewährt das besondere Städtebaurecht Kommunen entscheidende Eingriffsmöglichkeiten – aber es ist kein Allheilmittel, keine Wunderwaffe. Und es muss triftige Gründe geben, damit es zur Anwendung kommen kann. Erst wenn Kommunen mit weichen Instrumenten und mit Moderation nicht ans Ziel kommen darf das Besondere Städtebaurecht angewendet werden. Außerdem ist das Verfahren komplex, bei Sanierungsmaßnahmen häufig komplexer beziehungsweise kleinteiliger als bei Entwicklungsmaßnahmen.

Besonderes Städtebaurecht, Interview mit Dr. Franz-Josef Lemmen und Ole Malik
Fotos: Agentur Sputnik

Wie unterscheiden sich Sanierungsmaßnahmen und städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen in Bezug auf das besondere Städtebaurecht?

Franz-Josef Lemmen: Städtebauliche Sanierungsmaßnahmen nach §§ 136–164b BauGB sind auf die Lösung komplexer städtebaulicher Probleme in bebauten Bereichen, die meist über Jahre oder Jahrzehnte gewachsen sind, ausgerichtet. Sie erfordern die Auseinandersetzung mit Strukturen, oft mit einer großen Anzahl an Eigentümerinnen und Eigentümern, die häufig eine unerwünschte Eigendynamik entwickelt haben.

Städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen nach §§ 165–171 BauGB beziehen sich auf Stadtteile oder Gemeindegebiete, die eine besonderen Bedeutung für die städtebauliche Entwicklung haben und neu überplant werden – entweder handelt es sich um ganz neue Projekte im Außenbereich oder um Projekte im Rahmen einer städtebaulichen Neuordnung.

Besonderes Städtebaurecht, Interview mit Dr. Franz-Josef Lemmen und Ole Malik
Besonderes Städtebaurecht, Interview mit Dr. Franz-Josef Lemmen und Ole Malik

Gehen wir zunächst auf städtebauliche Sanierungsmaßnahmen nach §§ 136–164b BauGB ein. Eine solche Maßnahme begleitet NRW.URBAN aktuell in der Dortmunder Nordstadt, oder?

Ole Malik: Für die Stadt Dortmund führt NRW.URBAN aktuell vorbereitende Untersuchungen durch und unterstützt die Stadt bei der kommunikativen Begleitung im Rahmen von Bürgerbeteiligungsverfahren. Weite Teile der Dortmunder Nordstadt sind bereits heute als Sanierungsgebiet festgelegt. Die vorbereitenden Untersuchungen nach § 141 BauGB dienen als Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die weitere Anwendung des Sanierungsrechts vorliegen. Hierfür führt NRW.URBAN eine umfassende Analyse des Bestands durch und erfasst Daten zu sozialen, strukturellen und städtebaulichen Verhältnissen.

Ist es schwieriger eine Sanierungsmaßnahme umzusetzen als eine Entwicklungsmaßnahme?

Franz-Josef Lemmen: Das kann sein, weil bei städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen sehr kleinteilig gearbeitet werden muss. Auch wenn es sich nicht um so große Gebiete wie die Dortmunder Nordstadt handelt. Denn bei Sanierungen ist es häufig schwierig, notwendige Änderungen an Gebäuden und Grundstücken zu bewirken. Ziel ist, Eigentümerinnen und Eigentümer zu überzeugen, dass bauliche Veränderungen, energetische Ertüchtigungen oder die Umgestaltung der Außenanlagen ihr Eigentum aufwerten und letztlich dem Allgemeinwohl dienen. Und da Städte Hausbesitzer nicht mal eben enteignen können, um ihre Planungsvorstellungen umzusetzen, gibt es die Möglichkeit über eine Sanierungsmaßnahme mehr Einfluss zu gewinnen. Dann können sie zum Beispiel eingreifen und ein für die Sanierung dringend benötigtes Grundstück mit Hilfe des Vorkaufsrechtes erwerben, wenn der Eigentümer einen Kaufvertrag mit einem Dritten abgeschlossen hat.

Besonderes Städtebaurecht, Interview mit Dr. Franz-Josef Lemmen und Ole Malik
Besonderes Städtebaurecht, Interview mit Dr. Franz-Josef Lemmen und Ole Malik

Welche Kriterien muss ein Quartier denn erfüllen, um als Sanierungsgebiet ausgewiesen zu werden?

Franz-Josef Lemmen: Das Quartier muss städtebauliche Missstände aufweisen. Das können einerseits sogenannte Substanzschwächen sein, wenn zum Beispiel die vorhandene Bebauung nicht mehr den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse entspricht. Das betrifft aber auch private Grün- und Gemeinschaftsflächen wie Innenhöfe oder Spielplätze. Oder aber es liegen sogenannte Funktionsschwächen vor, das bedeutet, dass das Quartier die ihm zugeordneten Aufgaben nicht mehr gut genug erfüllt. Hier geht es zum Beispiel um die soziale Infrastruktur, um Verkehrsführungen für Fahrräder oder Fußgänger.

Und welche Vorteile bietet das über das Vorkaufsrecht hinaus?

Franz-Josef Lemmen: Die Stadt hat über das Vorkaufsrecht hinaus weitere Steuerungsinstrumente zur Verfügung, wie zum Beispiel die Genehmigungspflicht von Verträgen unter Privaten. Wichtig ist auch die Finanzierungsfunktion. So können unter Umständen die durch die Sanierung bedingten Bodenwertsteigerungen zur Finanzierung der Maßnahme mittels Ausgleichsbeträge der Eigentümer abgeschöpft werden. Darüber hinaus können Städtebauförderungsmittel von Bund und Land oder weitere Landesprogramme gezielt eingesetzt werden. Mit Stadtprogrammen wie zum Beispiel Fassadenprogrammen und steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten können Eigentümerinnen und Eigentümer motiviert werden, ihre Häuser zu sanieren oder instand zu setzen, um die Wohnqualität zu verbessern.

Was sind die Besonderheiten bei einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme nach §§ 165–171 BauGB?

Franz-Josef Lemmen: Die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme gibt den Kommunen die Möglichkeit, alle Grundstücke eines neu zu entwickelnden Bereichs zu erwerben, notfalls auch zwangsweise und im Gegensatz zur Sanierungsmaßnahme werden die entwicklungsbedingten Bodenwertsteigerungen in jedem Fall abgeschöpft.

NRW.URBAN ist aktuell in Münster im Projekt „An der Kanalkante“ tätig, wo es ebenfalls um eine Bestandsaufnahme geht, damit später eventuell eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme eingeleitet wird …

Ole Malik: So ist es. Ganz im Sinne der Ziele, die auch wir als Landesgesellschaft verfolgen, nämlich sozialgerechtes Wohnen möglich zu machen, möchte die Stadt Münster an der Kanalkante ein Quartier entwickeln. Die dafür benötigten Grundstücke gehören zum Teil verschiedenen Eigentümerinnen und Eigentümern. Der Investorenzuschlag soll später an diejenigen gehen, die nicht den höchsten Grundstückspreis, sondern die geringste Startmiete garantieren beziehungsweise öffentlich geförderte Wohnungen bauen.

Besonderes Städtebaurecht, Interview mit Dr. Franz-Josef Lemmen und Ole Malik

NRW.URBAN unterstützt die Stadt Münster im Moderationsprozess, führt aber parallel auch vorbereitende Untersuchungen für eine Entwicklungsmaßnahme durch?

Franz-Josef Lemmen: Genau. Die Stadt Münster fährt aktuell zweigleisig. Sie versucht vorrangig ihre Interessen auf kooperativer Basis durchzusetzen. Sollte das nicht gelingen, könnte das besondere Städtebaurecht zur Anwendung kommen. Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, führen wir die vorbereitenden Untersuchungen parallel zu den Gesprächen mit den Eigentümern durch. Auch hier geht es der Kommune darum, Herrin des Verfahrens zu werden, um im Allgemeinwohlinteresse handeln zu können. Eine ähnliche Vorgehensweise gibt es im Übrigen bei einer weitgehend unbebauten Fläche an der Steinfurter Straße, die die Stadt Münster zukünftig ebenfalls zu einem urbanen Modellquartier entwickeln möchte. Zu diesem Projekt führt NRW.URBAN derzeit ebenfalls vorbereitende Untersuchungen durch.

Wenn es auf der freiwilligen Schiene nicht funktioniert, dann wird Münster eventuell das besondere Städtebaurecht anwenden. Welche Kriterien muss eine Stadt denn erfüllen, um ein solch einschneidendes Recht anwenden zu können?

Franz-Josef Lemmen: Zunächst muss die Stadt eine Entscheidung auf der politischen Ebene herbeiführen – idealerweise einen Beschluss über den Beginn vorbereitender Untersuchungen mit Konsens über alle Parteien und Gremien hinweg. Dann fließen die Erkenntnisse aus der vorbereitenden Untersuchung ein: Hat das Projekt eine besondere, deutlich wahrnehmbare Bedeutung für die Stadt? Erfordert das Allgemeinwohl die Maßnahme? Sind die Eigentümer zum entwicklungsunbeeinflussten Wert verkaufsbereit? Wurden alle milderen Mittel ausgereizt? Sind diese und noch weitere Kriterien erfüllt, kann die Stadt die Grundstücke zu einem Wert erwerben, der die voraussichtliche Wertsteigerung durch die Entwicklungsmaßnahme noch nicht berücksichtigt. Über die Veräußerung der Grundstücke zum Entwicklungs-Baulandwert schöpft sie die Bodenwertsteigerungen ab, um die Maßnahme zu finanzieren – zum Beispiel in grüne Infrastruktur oder in soziale Einrichtungen.

Lieber Dr. Lemmen, lieber Herr Malik – vielen Dank für das Gespräch!

INFO

Münster: Lebendige Vielfalt am Kanal

Die Stadt Münster plant im Bereich des Hafens und entlang des Dortmund-Ems- Kanals neue urbane Stadtquartiere mit Modell-Charakter. Auf dem circa 20 Hektar großen Areal an der Theodor-Scheiwe- Straße – gegenüber vom Stadthafen 1 – möchte die Stadt dringend benötigten Wohnraum in Mischung mit urbanem Arbeiten realisieren. In der Nieberdingstraße, auf circa elf Hektar gegenüber dem Stadthafen 2, liegt der Fokus auf urbanem Leben und Arbeiten unter Berücksichtigung der bestehenden Nutzungs- und Freiraumstrukturen. NRW.URBAN ist mit der Projektsteuerung und den „Vorbereitenden Untersuchungen“ für eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme nach den §§ 165 ff. BauGB für diese beiden Quartiere ebenso beauftragt wie für ein geplantes urbanes Stadtquartier an der Steinfurter Straße in unmittelbarer Nähe zum Technologiepark.

Ihre Kontaktpersonen

Dr. Franz-Josef Lemmen
Projektmanagement

Fritz-Vomfelde-Straße 10, 40547 Düsseldorf

Tel.: 0211 54238.373

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Dr. Franz-Josef Lemmen, Projektmanagement, Portrait

Ole Malik
Projektmanagement

Revierstraße 3, 44379 Dortmund

Tel.: 0231 4341.118

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Ole Malik, NRW.URBAN